02.05.2023 | „Wie konnte es am 2. Mai 1933 zum Sturm der Gewerkschaftshäuserkommen?“ – mit dieser Frage haben wir uns mit dem Historiker Holger Gorr, Schülern des Johanneum Gymnasiums in Herborn und Gästen bei einem Gespräch zwischen Jung und Alt im AWO-Mehrgenerationenhaus in Herborn beschäftigt.
Der 2. Mai 1933 ist im kollektiven Gedächtnis unseres Landes – nicht so verankert wie andere „NS-Gedenktage“. Ebenso droht die Verfolgung von GewerkschafterInnen und politisch Aktiver, wie auch der Arbeiterbewegung insgesamt in den Hintergrund zu rücken :
Der 9. November, der 1. September als Tag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, der 27. Januar, der 20. Juli!
Und doch: Ohne den 2. Mai wären die Ereignisse der anderen Tage kaum denkbar gewesen. Judenverfolgung und Krieg hatten die Unterdrückung der Arbeiterbewegung, die Zerschlagung der Gewerkschaften zur Voraussetzung.
An dieser Stelle wollen wir Martin Niemöller zitieren:
„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“
(Martin Niemöller, in einem Gespräch Ostern 1976 in Kaiserslautern)
Bei den Betriebsratswahlen im März 1933 war in den Betrieben von Umschwung wenig zu spüren. Die Kandidatinnen der freien Gewerkschaften fanden mit Abstand den größten Zuspruch in den Belegschaften, die Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisationen NSBO der NSDAP blieben bei knapp 12 Prozent. Laut ADGB vom 29.4.33 waren in 1287 Betrieben 9235 Arbeiterratsmitglieder gewählt, davon erhielten die Listen der freien Gewerkschaften 73,4 Prozent der Stimmen.
Die NSDAP-Führung bereitete etwas vor, um die Gewerkschaften dauerhaft zu brechen:
Der 1. Mai wurde mit großem Propagandarummel zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ erklärt.
Bereits am 29. März 1933 wurde ein „Aktionskomitee zum Schutz der deutschen Arbeit“ unter Leitung des Reichsorganisationsleiters der NSDAP und Leiters der späteren Deutschen Arbeitsfront (DAF) der Nazi, Robert Ley, gebildet. Dieses erarbeitet einen detaillierten, aber streng vertraulichen Plan zur Zerschlagung der Gewerkschaften.
Man kann nur wiederholen, der 1. Mai wurde mit großem Propagandarummel zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ erklärt.
Hauptakteure der Aktion am 2. Mai 1933 sollten die NSBO sein. Unterstützt werden sollte diese von der örtlichen SA und SS. Letztere sollten die Gewerkschaftshäuser besetzen und Verhaftungen vornehmen.
Ley und Goebbels stellten Hitler am 16. April auf dem Obersalzberg ihre Planungen vor und erhielten dessen Zustimmung. Goebbels notierte am 17. April 1933 in sein Tagebuch:
„Den 1. Mai werden wir zu einer grandiosen Demonstration deutschen Volkswillens gestalten. Am 2. Mai werden dann die Gewerkschaftshäuser besetzt. Gleichschaltung auch auf diesem Gebiet. Es wird vielleicht ein paar Tage Krach geben, aber dann gehören sie uns. Man darf keine Rücksicht kennen. Wir tun dem Arbeiter nur einen Dienst, wenn wir ihn von der parasitären Führung befreien, die ihm bisher das Leben sauer gemacht hat. Sind die Gewerkschaften in unserer Hand, dann werden sich auch die anderen Parteien und Organisationen nicht mehr lange halten können….“
Mit der Zerschlagung der freien Gewerkschaften erfolgte zugleich auch die Abschaffung des Streikrechts, die Abschaffung des Betriebsrätegesetzes und die Gewerkschaftsmitglieder wurden zwangsweise in die Deutsche Arbeitsfront überführt. Die Unternehmer wurden zu „Betriebsführern“ erklärt, denen uneingeschränkt zu gehorchen war. Schritt für Schritt lösten Arbeitsdienste und Zwangsarbeit die Normalarbeitsverhältnisse ab.
Die Gewerkschaftsführungen fühlten sich durch den Feiertag ein weiteres Mal bestätigt und glaubten, sich einem Aufruf zur Beteiligung nicht entziehen zu können. Darüber waren viele verärgert, sie haben sich dann am 1. Mai verdrückt, um nicht an solch einem Spektakel teilnehmen zu müssen.
Wie sah dieser 1. Mai 1933 in Herborn aus? Die Hauptstraße war fahnengeschmückt, das Bürgertum hatte seine schwarz-weiß-roten Flaggen herausgeholt und Hakenkreuze aufgenäht. Die Belegschaften der Burger Eisenwerke und des Eisenwerks Herborn, bei den Frank´schen Eisenwerken waren versammelt, oder soll ich sagen angetreten? Hören wir hierzu das „Herborner Tageblatt“:
„Nach einem Choral des Posaunenchors von Burg sprach der Betriebsinhaber, Hans Grün in Dillenburg zur Belegschaft. Der Redner machte auf die Bedeutung des 1. Mai aufmerksam, der im Gegensatz zu den frühen Feiern heute dazu dienen solle, den Klassenkampf zu vernichten und die zusammenzuführen, die doch auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. „Wenn wir heute auf diesem Hüttenplatz zur gemeinsamen Feier beieinander stehen, so ist dies das große Verdienst unseres Reichskanzlers Adolf Hitler.“ Mit einem dreifachen Hoch auf Volk und Vaterland schloss der Redner und unter den Klängen des gemeinsam gesungenen Liedes ‚Deutschland, Deutschland über alles“ wurden auf den Fabrikschornsteinen die schwarz-weiß-rote und die Hakenkreuzfahne gehisst.“ (DzG Herborn, S. 507)
Am nächsten Tag, am 2. Mai um 10.00 Uhr haben SA und NSBO reichsweit die Gewerkschaftsbüros besetzt. Die Polizei wurde angewiesen, nicht einzugreifen. Die Kassen wurden beschlagnahmt, die politischen Sekretäre verhaftet, oftmals misshandelt, etliche ermordet.
Was geschah in den Herborner Gewerkschaftsbüros? Einer der beiden DMV-Sekretäre, Adolf Kunz, war bereits im 17. Juli 1932 krankenhausreif geschlagen worden, nachdem die SA seine Kneipe hatte. Er hat seine Arbeit nicht wieder aufgenommen. Der andere Sekretär, Hermann Schaub, war inzwischen zum Bürgermeister in Sinn gewählt worden. Er war nicht im DMV-Büro in der Kaiserstraße, sondern in Sinn. Er ist gewarnt worden und im Rhein-Main-Gebiet untergetaucht. Er war Zielscheibe der Nazis, sie hätten ihn sicher schwer misshandelt. Arbeitslosigkeit und Mitgliederprobleme hatten die Verwaltungsstelle stark belastet. Man hatte einen jungen Kollegen eingestellt, der aber nur die Kassengeschäfte abwickeln sollte. Die Besetzung selbst und der Raub der Kassen verliefen unblutig. Dafür ist der Bergarbeitersekretär Paul Szymkowiak im Juli 1933 von Herborner SA-Männern schwer misshandelt worden. Seine Frau Anna war so mutig, Strafanzeige gegen die SA-Leute zu stellen. Aus dem Strafantrag:
„Der Anzug meines Mannes ist bei mir in der Wohnung. Blut und Erde sind noch daran. Das Gebiss und die Brille sind entzwei. … Meinem Mann wurden im Wald die Augen verbunden, ebenso der Mund. Dann wurde er an einen Baum gebunden und furchtbar geschlagen. Der Urin ist beinahe schwarz. Mein Mann zittert am ganzen Körper.“ (DzG Herborn, S. 513-514)
In diesen Tagen ereignete sich auch die „Schlacht um Beilstein“, wie der SA-Überfall oft genannt wird: Etliche SA-Hundertschaften hatten sich nachts in den Steinbrüchen eingefunden, um mit den „roten Horden“ von Beilstein abzurechnen. Gemeint waren die gewerkschaftlich organisierten und mit der SPD sympathisierenden Steinarbeiter des Ortes.
„Wie diese braunen Scharen in Beilstein hausten, entspricht den Schilderungen der Gräuel des Dreißigjährigen Krieges. Es wurde wahllos drauflos geprügelt, bis die Opfer und ihre Peiniger nicht mehr konnten, man trat einer schwangeren Frau vor den Leib, dass sie vierzehn Tage später unter schrecklichen Qualen starb, und den damaligen Bürgermeister a. D. Koob misshandelte man und hing ihn auf dem Wege nach Wetzlar dreimal an einem Baum auf, um ihn jedes Mal wieder herabzulassen, wenn er schon das Bewusstsein verloren hatte.“ (DzG Herborn, S. 623)
Die Besetzung der Gewerkschaftshäuser, der Raub der Kassen und die Misshandlung führender Funktionäre der Gewerkschaften – alles fand auch hier statt, wenn auch einzelne Ereignisse zeitlich auseinander fielen.
In den folgenden Wochen wurden die Konsumgenossenschaften, die SPD, die Kultur- und Sportorganisationen der Arbeiterbewegung verboten. Wir müssen feststellen: Weitere Dominosteine waren gefallen. Demokratie, Freiheit, Menschenwürde, Tarifautonomie – alles war beseitigt. Die bürgerlichen Parteien lösten sich selbst auf. Übrigens: Sie hatten allesamt im März dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt.
Und die Arbeitgeber? Es sind keine Proteste oder Kommentare bekannt geworden. Ihre Krisenlösung bestand in Lohnsenkung und Massenentlassung. Diese Haltung hat sich auf ganzer Linie durchgesetzt. Politisch verlangten sie Sozialabbau und Entlassungen im öffentlichen Dienst. Ihre Forderungen wurden weitgehend erfüllt. Die Gewerkschaften waren dabei nur im Weg.
Die „Deutsche Arbeitgeber-Zeitung“ blickt am 28. Mai 1933 zurück:
„Die Frontstellung richtete sich damals klar gegen einen wirtschaftlich zerrüttenden, die Arbeiterschaft mit immer neuen, nicht realisierbaren Lohnhoffnungen verführenden Gewerkschaftsmarxismus einerseits, gegen eine marxistisch beeinflusste, wirtschaftsfeindliche Staatsführung andererseits. … Je tiefer durchdrungen vom neuen staatlichen Geist das wirtschaftliche Verbändewesen sich entfaltet, desto mehr kann der Staat sich auf die obersten Richtlinien zurückziehen…“ (Deutsche Arbeitgeber-Zeitung Nr. 22, 28.5.1933)
Die Unternehmer haben nach der gewaltsamen Auflösung der Gewerkschaften ihre eigenen Organisationen, die Arbeitergeberverbände nicht mehr gebraucht und selbst aufgelöst, nach BGB liquidiert, den Liquidationserlös oftmals der Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft überwiesen.
Sie haben sich erfolgreich darum bemüht, die NSBO und die DAF aus der Selbstverwaltung der deutschen Wirtschaft und vor allem aus den Betrieben herauszuhalten. Nun konnten sie sich ungestört dem Kerngeschäft, der Vermehrung ihres Reichtums, widmen. Dabei haben sie alle Möglichkeiten genutzt, die das Regime geboten hat.
Wie sah Deutschland ohne Gewerkschaften aus? Die Arbeiterbewegung war restlos zerschlagen. Es war keinerlei Selbstorganisation mehr möglich, selbst rechtsgerichtete Organisationen wurden aufgelöst, falls Arbeiter oder andere Oppositionelle versuchten, solche Organisationen für sich zu nutzen. Wie sah es in den Betrieben aus? Demokratische gewählte Betriebsräte wurden abgesetzt. Die Betriebsratswahlen und anschließend die so genannten Vertrauensratswahlen wurden aufgehoben, da die Arbeiter immer noch solche Menschen wählten, die ihren Interessen dienten, und Nazis nur wenige Stimmen erhielten. Die ehemals organisierten Arbeiter blieben dem Regime immer verdächtig und unkontrollierbar. Sie haben sich widersetzt, langsam gearbeitet, Leistung zurückgehalten, sich gezielt krank gemeldet und in den Jahren 1936 und 37 sogar gestreikt, übrigens auch Bauarbeiter bei Langenaubach. Die überwältigende Mehrheit der Widerstandskämpfer und -kämpferinnen kam aus den Reihen der Arbeiterbewegung.
Der Wille zum „Nationalen Aufstieg“ klammerte die NSDAP, das Militär, große Teile aus Unternehmerschaft, Bürgertum und Kirchen zusammen. Kurz: die Eliten verbündeten sich mit der faschistischen Bewegung, über diese Ziele herrschte Konsens.
Und, Kolleginnen und Kollegen, lässt es mich einmal deutlich sagen: Diese Eliten, die Gebildeten, die Reichen und Einflussreichen, sie haben angesichts des Faschismus moralisch versagt. Wie haben „die Märkte“, die ja fast schon zum eigentlichen Souverän geworden sind, reagiert? Unmittlbar nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gab es Kurssteigerungen um 5 bis 6 % an der Berliner Börse.
„Deutschland“ 1933 war eben nicht ein einheitlicher Block war, keine homogene Masse, sondern dass es innergesellschaftliche Differenzierung gab. Es gab Kreise, die den Faschismus unterstützt haben, ihre Hoffnungen und Strategien danach ausgerichtet haben, und bis zum Schluss mitgemacht haben. Es gab aber auch solche, die unter der Krisenbewältigung zu leiden hatten und widerstanden waren.
2. Mai 1983 Herborn Bürgerhaus Merkenbach
Weitere Gedenktafeln zur NS-Zeit mit Hintergrundinformationen sind geplant, wer Interesse an einer Mitarbeit hat, bitte bei uns melden.
Außerdem werden wir ein Seminar mit Holger Gorr „Weltwirtschaftskrise – aufkommender Faschismus – Unterdrückung“ anlässlich des Antikriegstages am 1./2. September 2023 anbieten.
Enden möchten wir mit Willi Bleicher, der etwas verkörpert, was die Generation nach 1945 bisher nie beweisen musste:
Willi Bleicher, 1904 geboren, bewies vor und nach der Machtübertragung an die Nazis Standhaftigkeit und Menschlichkeit im antifaschistischen Kampf, um die deutsche Arbeiterschaft, das deutsche Volk, vordem Absturz in die Nacht und Schande des Faschismus zu bewahren.
Verhaftet, gefoltert und inhaftiert im KZ Buchenwald, überlebte die Nazizeit und war nach 1945 Bezirksleiter der IG Metall Stuttgart und Vorstandsmitglied. Er zeitlebens immer für Recht – Freiheit – Gerechtigkeit eingestanden.
Die Erfahrungen und Erkenntnisse als Gewerkschafter und Antifaschist haben ihn davon überzeugt, die Gewerkschaften zu einer starken, einheitlichen Kraft zu entwickeln, die Gemeinsamkeit der Antifaschisten über alle sonstigen Meinungsverschiedenheiten hinweg zu entwickeln und zu sätrekn.
Der 30. Januar 1933 und der 2. Mai 1933 haben das Leben von Willi Bleicher bis zu seinem Tod unauslöschlich geprägt:
Du sollst dich vor keinem lebenden Menschen bücken und „Der Frieden ist elementare Voraussetzung für gewerkschaftliches Wirken … Als Arbeiter, als Arbeiterführer wollte er, dass unsere Arbeit dem Leben diene, nicht dem Tod und der Vernichtung.
Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine Empörung.